LYONEL STIEF UND SEINE ZAHNBÜRSTEN-TECHNIK

Montag, 09. November 2020

Fantastische Requisiten, abgefahrene Stylings, innovative Make-ups: Lyonel Stief scheut für seine epischen Bild-Welten keine Mühen. Wie man auch mit minimalem Zeit- und Material-Aufwand zu Ausnahme-Porträts kommt, zeigt der findige Fotograf und Foto-Coach mit seiner Zahnbürsten-Technik, die die Gesichter der Models in Leinwände verwandelt.

Grenzen sprengen, alles neu denken, das Dagewesene gegen den Strich bürsten: Das ist eine vorzügliche Strategie von Kreativen. Auch für Lyonel Stief. Mal hüllt der einfallsreiche Bildermacher weiß gekleidete Models in Wolken aus Kunststoff-Folien ein, dann wieder inszeniert er eines seiner Models als sexy römische Legionärin vor historischen Mauern oder er stellt einen gigantischen Weihnachtsbaum auf den Kopf und funktioniert ihn zum wallenden, grünen Nadel-Kleid um, das er einem auf einer Leiter stehenden Model anzieht.

Fantastische Bildwelten, verrückte Effekte

Es gehe ihm, sagt der 29-Jährige, nicht darum, den besonderen, den entscheidenden Moment einzufangen, sondern vielmehr darum, diesen erst zu schaffen. Der Aufwand muss allerdings nicht immer so groß sein wie bei dem Weihnachtsbaum-Motiv, seinem „Once in a Lifetime“-Projekt, wie Lyonel sagt. Der experimentierfreudige Fotograf kann vielmehr auch minimalistischen Tools eine ganze Menge abgewinnen. Bestes Beispiel: die Zahnbürsten-Technik. Das Prinzip: Lyonel grundiert das Gesicht seiner Models mit einer schimmernden Farbe, und trägt, je nach Gusto, zudem ein Basis-Make-up mit Lippenstift und Eyeliner auf. Dann nimmt er eine Zahnbürste, taucht diese in Wasser und verrührt mit ihr Theaterschminke zu einem mehr oder weniger dickflüssigen Brei. Dann nimmt er den Zahnbürstenkopf zwischen die Finger, drückt ihn nach hinten, baut Spannung auf – und lässt ihn „losflitschen“. So befördert er die Farbsprenkel aus wenigen Zentimetern Entfernung auf Gesicht und Oberkörper des Models.

Das Gesicht als Leinwand

Das Ergebnis fängt Lyonel mit seiner Nikon Z 6 ein: Ekstatische Farbkonstellationen, mal wässrig-verlaufend, mal körnig und erhaben, manche erinnern an farbigen Wandputz. Mit Lyonels Zahnbürsten-Technik wird das Gesicht zur Leinwand. Das erinnert an das Action-Painting, das der US-Künstler Jackson Pollock einst propagierte und damit eine ganz neue Art des Malens erfand: Eine, in der der Schaffensprozess selbst zur Kunst wird und der Zufall zu dessen unverzichtbaren Gehilfen. Dass Lyonel dieses künstlerische Konzept für sich und seine Bildwelten umwidmete, ist hingegen alles andere als ein Zufall. Der frühere Tanzlehrer, Choreograph und Mediendesigner, der sich die Fotografie wie auch das Styling selbst beibrachte, ehe er sich 2010 selbständig machte, propagiert von jeher Spontaneität und „Offenheit gegenüber Materialien“. Die Grundidee kam ihm übrigens in der „Weltall AG“ der ersten Grundschulklasse. Damals ging es darum, eine Galaxie mithilfe eben dieser Spritztechnik aufs Papier zu zaubern, wie er im Gespräch mit Nikon MAGAZIN erzählt. Das ist rund 20 Jahre her. Merke: Der bei Lehrern gleichermaßen beliebte wie von Schülern gehasste Satz “Du lernst nicht für die Schule, sondern fürs Leben“ – im Falle von Lyonel hat er sich tatsächlich bewahrheitet.



„Spiegellose Kameras machen
das Fotografieren und Filmen
buchstäblich leichter.“

Lyonel, was schätzt du besonders an der Zahnbürsten-Technik?

Die Zahnbürste ist mein „Lieblingspinsel“, denn einerseits lassen sich mit ihr schnell präzise und scharf konturierte Striche ziehen, andererseits eben auch grafische Strukturen auf die Haut zaubern. Was ich toll finde: Man hat eine gewisse Kontrolle über das Endergebnis, aber eben nicht die komplette. Damit kommt der Zufall als kreativer Faktor mit ins Spiel. Die Ergebnisse sind immer wieder überraschend und es handelt sich um eine wirklich einfach zu handhabende Technik.

Wenn man dir bei der Arbeit zusieht, hat man aber den Eindruck, dass du wirklich ein Händchen dafür hast …

Danke, allerdings bin ich kein ausgebildeter Make-up-Artist, allenfalls würde ich mich als eine Art Freestyle-Make-up-Artist bezeichnen.

Mit anderen Worten: Man muss für diese Technik nicht sonderlich begabt sein?

Nein, das ist ja das Tolle. In meinen Kursen sind immer wieder Teilnehmer, die sagen, dass sie zwei linke Hände haben. Am Ende aber sind ihre Ergebnisse fast immer gelungen.

Wie gehst du grundsätzlich vor?

Als Basis nutze ich meist einen Schimmer-Stick, mit dem ich etwas Schimmer auf Wangenknochen, Nase, Kinn und auch ein bisschen aufs Lippenherz auftrage. Darüber hinaus setze ich mit Contouring bestimmte Highlights, teilweise ergänze ich das durch Lippenstift und Eyeliner. Dabei gilt: Nicht sparen, man kann fast nicht übertreiben. Denn wenn du die Farbe mit der Zahnbürste aufbringst, deckt die ohnehin das meiste ab.

Welche Tipps hast du für Leute, die in das Thema Zahnbürsten-Action einsteigen wollen?

Also zunächst mal kann man in einem ersten Schritt die Technik auf einem Blatt Papier ausprobieren und so ein gewisses Gefühl für das Zeichnen mit der Zahnbürste und die Spritztechnik bekommen. Wie grob bzw. fein die Strukturen sind, hängt im Wesentlichen von der verwendeten Wassermenge ab: Je nachdem wie sämig die Farbe ist, entstehen eher Spritzer und Verläufe oder aber haptische Strukturen. Ich rate zu Theaterschminke. Die ist vergleichsweise günstig, vor allem aber hautverträglich und ungiftig, sollte mal etwas daneben gehen. Trotzdem bitte ich die Models immer, eine Hand vor den Mund zu halten und die Nasenlöcher mit einem kleinen Stück Papier abzudecken. Ansonsten gilt: ausprobieren und der Fantasie freien Lauf lassen!

Das klingt recht einfach. Andererseits sehen einige deiner Zahnbürsten-Motive ziemlich aufwändig aus, vor allem, was das Styling angeht.

Auch dafür gibt es im Zweifel eine einfache Lösung. Das Shooting findet in der Regel im Liegen statt. Das hat den Vorteil, dass ich ohne großen Aufwand Materialien wie Schals, Tücher oder Moosgummiblüten um das Gesicht und den Oberkörper der Models herum drapieren kann.

Die hier gezeigten Bilder und Videos hast du mit Nikon-Kameras eingefangen. Mit welchen Modellen arbeitest du?

Früher habe ich viel mit der Nikon D850 gearbeitet, inzwischen nutze ich hauptsächlich die Nikon Z 6 und künftig auch die Z 7 – am liebsten mit meinem „Immer drauf“-Objektiv, dem NIKKOR Z 24-70 mm 1:4 S, das mir bei den Shootings genügend Flexibilität gibt.

Was schätzt du an diesen Schwestermodellen?

An den spiegellosen Nikon-Kameras gefällt mir vor allem das im Vergleich zu DSLRs geringe Gewicht, das macht das Fotografieren und Filmen buchstäblich leichter. Darüber hinaus ist der Autofokus gerade beim Filmen der Hammer. Dadurch reduziert sich der Bildausschuss dramatisch.

Zu guter Letzt: Welche Zahnbürste würdest du uns empfehlen?

Dr. Best – die klügere Zahnbürste gibt nach! (lacht). Nein, im Ernst, das einzige worauf man bei der Zahnbürste achten sollte, ist, dass man sie nicht versehentlich nach dem Shooten wieder in den Mund steckt.


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